Ezid_innen und Ezidentum
Ezid_innen sind Angehörige einer kurdisch-sprachigen ethno-religiösen Gruppe. Ihre traditionellen Siedlungsgebiete befinden sich im Grenzgebiet der Türkei, Syrien und Irak. Ezid_innen nennen das Gebiet, in dem sie die Mehrheit ausmachen Êzîdxan („Haus Gottes“). Heute befindet sich das Hauptsiedlungsgebiet der Ezid_innen im Nordirak. Dort lebten ca. 400.000 Menschen in Shingal und ca. 200.000 in der autonomen Region Kurdistan. Aufgrund ihrer Verfolgungsgeschichte leben nur noch ca. 500 Ezid_innen in der Türkei und ca. 3.000 in Rojava (Nordsyrien). Mit ca. 200.000 Personen ist Deutschland das Land mit der größten ezidischen Gemeinschaft außerhalb der traditionellen Siedlungsgebiete. Weltweit gibt es ca. eine Million Ezid_innen.
Geschichte, Religion, Kultur
Allgemeines
Das Ezidentum ist ein eigenständiger Glaube und kann nicht von anderen existierenden Religionen abgeleitet werden. Die Wurzeln reichen mehrere tausend Jahre zurück und sind damit älter als das Christentum. Das Ezidentum ist monotheistischer Natur. Die Ezid_innen glauben an einen Gott (Xwedê) als Schöpfer des Universums, der einzig, allmächtig und allwissend ist. Außerdem wird der Erzengel Tawisî Melek (Engelpfau) verehrt. Es gibt keine Vorstellung eines Widersachers gegenüber dem göttlichen Willen. Die Ezid_innen gebrauchen keine heilige Schrift. Bestehende Schriften sollen im Zuge von Verfolgung, Deportationen und Genoziden durch radikale Muslime, besonders zu Zeiten des Osmanischen Reiches, zerstört oder verfälscht worden sein. Die religiösen Traditionen und Glaubensvorschriften werden mündlich überliefert. Die Ezid_innen unterteilen sich in Laien (Mirîd) und Geistliche (Ruhanî). Als Ezide/Ezidin wird man geboren, wenn beide Elternteile ezidisch sind. Das religiöse Zentrum ist das Heiligtum Laliş im Nordirak, in der Region Kurdistan.
Das Heiligtum von Şêx Adî (Laliş) ist das Schönste von allen Heiligtümern. Es ist grün dort. Es gibt dort viele Bäume.
— Überlebender. In: Women for Justice e.V.: Ezid_innen und der anhaltende Genozid. Informationsheft, 2021, S. 14.
Feiertage
Im Laufe des Jahres gibt es zahlreiche ezidische Festtage. Zu diesen werden oft Heiligtümer aufgesucht, die zumeist weiße Türme haben. Die Ezid_innen sind in der Religionsausübung der Natur sehr verbunden. Während in den traditionellen Siedlungsgebieten Bäume selbst als Pilgerorte zu Ehren von Heiligkeiten gelten und an Pilgerstätten besonders geachtet werden, so gilt der April als „Braut des Jahres“, an dem gewöhnlich keine Hochzeiten stattfinden, weil die Mutter Erde als die schönste Braut gilt. Mit dem Fest zum Jahresanfang, am Çarşemba serê Nîsanê („Mittwoch am Beginn des Aprils“), auch Çarşemba Sor („Roter Mittwoch“) genannt, wird der Entstehung der Welt gedacht. Es gilt als Fest zu Ehren von Mutter Erde.
Es gibt Fastentage am Ende des Jahres, die über drei Wochen laufen. In der ersten Woche wird zu Ehren der Sonne und des Lichtes (Şêşims), in der zweiten Woche zu Ehren der Ahnen und Heiligen (Xudan) und in der dritten Woche zu Ehren Gottes gefastet. In der dritten Woche wird dann das größte ezidische Fest des Jahres, Cejna Êzî auch Îda Êzî zu Ehren Gottes gefeiert. Êzî ist einer der Namen Gottes und Namensgeber der Gemeinschaft (im Kurdischen Êzîdî). In jeder Woche wird von Dienstag bis Donnerstag gefastet. Der Freitag gilt jeweils als Feiertag. Das Cejna Cimayî (Versammlungsfest) zu Ehren des Reformators Şêx Adî, der im 12. Jahrhundert lebte, und zur Ehrung des Zusammentreffens der sieben Engel, wird eine Woche lang im Oktober in der zentralen Heiligenstätte Laliş gefeiert. Jede_r Ezid_in soll einmal im Leben daran teilnehmen.
An Festtagen sind wir morgens früh aufgestanden und sind auf die Gräber unserer Verstorbenen gegangen, wo ein heiliger Tempel war. Am Abend davor haben wir unser Essen zubereitet. Wir haben das Essen gemeinsam am Heiligtum gegessen. Das ist unsere Tradition. (…) Wenn ich eines Tages sterbe, möchte ich auch dort begraben werden. Mein Herz hängt am Ezidentum.
— Überlebende. In: Women for Justice e.V.: Ezid_innen und der anhaltende Genozid. Informationsheft, 2021, S. 11.
Geographie und Leben in Shingal
Shingal (auch Sinjar oder Şengal) ist der Name einer Provinz im Nordirak, deren Hauptstadt den gleichen Namen trägt. Während der Norden Shingals an Syrien grenzt, stößt der Süden an den arabischen Teil des Irak. Das Shingal-Gebirge durchzieht das Gebiet, das aus verschiedenen Distrikten und Dörfern besteht. Im Rahmen der Arabisierungs- oder der sogenannten Modernisierungspolitik der Baath-Partei wurden Araber_innen in den 70er Jahren in die Stadt Shingal angesiedelt. Die ezidischen Dörfer im Gebirge wurden zum größten Teil aufgelöst und die Menschen in teils neu geschaffene Ortschaften am Gebirgsrand zwangsumgesiedelt. Die meisten ezidischen Tempel und Heiligenstätten befinden sich im Shingal-Gebirge, das bis zu 1.500 m hoch ist.
Shingal wird fast ausschließlich von Ezid_innen bewohnt. Diese leben zu großen Teilen in Dorf- und Familiengemeinschaften. So werden Feste groß gefeiert, das gemeinsame Essen hat einen hohen Stellenwert, wobei die regionale Küche viele Fleischgerichte kennt. Von älteren Menschen oder zu besonderen Anlässen wird traditionelle Kleidung getragen. Überregional bekannt sind Tabak und Feigen aus Shingal. Bis heute leben viele Menschen von der Landwirtschaft. Nach Beginn des Genozides 2014 ist die Arbeitslosigkeit extrem hoch.
Es gibt keinen schöneren Ort als Sinjar. Das Gebirge ist wunderschön und es gibt Kurven, die hoch steigen. (…) Manchmal haben wir unsere Tiere mit auf die Alm genommen. Das Gebirge war teils geschlossen, aber zum großen Teil offen. Besonders schön war es in Kersê und auch das Heiligtum von Pîraxa war schön. Viele Menschen haben hier einen Ausflug gemacht. (…) Wenn ich mal nicht in Sinjar war, wollte ich immer schnell wieder zurück. Das war mein Wohlfühlort.
— Überlebender. In: Women for Justice e.V.: Ezid_innen und der anhaltende Genozid. Informationsheft, 2021, S. 18.
Ezid_innen in Deutschland
Einwanderung nach Deutschland
Die ersten Ezid_innen, hauptsächlich Männer, kamen im Rahmen des 1961 unterzeichneten Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei zwischen 1964 und 1973 nach Deutschland. In den Folgejahren migrierten sie im Zuge von Familienzusammenführungen nach Deutschland oder stellten Asylanträge – eine Konsequenz des Militärputsches in der Türkei im Jahr 1980, nach dem sie wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit als Kurd_innen und als religiöse Minderheit verfolgt wurden. Während das Verwaltungsgericht in Stade die Ezid_innen bereits 1982 als Gruppenverfolgte anerkannte, erhielten sie erst ab 1992 grundsätzlich Asyl in Deutschland. Zum Ende der 90er Jahre lebten nur noch einige hundert Ezid_innen in ihren Dörfern in der Türkei. Viele nach Deutschland Eingewanderte beantragten die deutsche Staatsbürgerschaft und planten keine Rückkehr mehr.
Seit den 80er Jahren kam es zur Flucht von Ezid_innen aus Syrien, dem Irak und den GUS-Staaten. Der syrische Bürgerkrieg, der seit 2011 tobt, und die Gewalt durch den Islamischen Staat in Syrien und dem Irak verursachten besonders große Fluchtbewegungen nach Deutschland.
In all ihren Herkunftsländern litten die Ezid_innen teils seit Jahrhunderten unter Verfolgung und Ausgrenzung, so im Osmanischen Reich und später in den Folgestaaten Türkei, Syrien und Irak. Dies brachte auch ökonomische Folgen mit sich. In Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen fanden die meisten Ezid_innen eine neue Heimat. Die Zahl der Ezid_innen in Deutschland wird heute auf 200.000 geschätzt. Vor den Angriffen des Islamischen Staates in Syrien und Irak, also vor 2014, soll die Zahl bei 100.000 gelegen haben. Deutschland ist somit das Land mit den meisten Ezid_innen außerhalb der traditionellen Siedlungsgebiete.
Mein erstes Kind! Meine Tochter Sükriye habe ich, als ich nach Deutschland ging, bei meiner Schwiegermutter zurücklassen müssen. Als diese krank wurde, holte mein Vater Sükriye. Sie lebte drei Monate bei meinen Eltern. Über ein Jahr habe ich auf sie warten müssen! Mein Vater brachte sie zu uns nach Deutschland. Wir waren wieder eine Familie!In: Ezidinnen und Landfrauen im Gespräch. Fremde Frauen, Freundinnen. 2010, S. 43f.
Ich lernte meinen Mann, der auch aus meinem Heimatdorf stammt, in Celle kennen. Wir heirateten 1975, fern der Familien. Selbstverständlich habe ich nach der Heirat weitergearbeitet. (…) Wir lebten bescheiden, sparten und konnten uns endlich in Celle ein altes Haus kaufen. Unsere Eltern bzw. Schwiegereltern unterstützten wir auch weiterhin.In: Ezidinnen und Landfrauen im Gespräch. Fremde Frauen, Freundinnen. 2010, S. 62.
Wir wurden von den Moslems in der Türkei verfolgt. (…) Meine Eltern waren einmal mit dem Bus zu ihren Eltern gefahren. Einige Fahrgäste hatten mitbekommen, dass im Bus Eziden mitfuhren. Beim nächsten Halt kamen ganz viele Türken, bestimmt hundert Leute, die die Eziden aus dem Bus holen wollten, um sie zu töten. Der Busfahrer hat die Fenster geschlossen und versucht, weiterzufahren. Die Leute haben den Bus gerüttelt und geschüttelt, sodass er fast umgekippt ist. Meine Eltern dachten, sie kommen nie mehr nach Hause. Sie waren eine Woche lang von diesem Schrecken krank, und noch heute erzählen sie davon mit großer Furcht.In: Ezidinnen und Landfrauen im Gespräch. Fremde Frauen, Freundinnen. 2010, S. 82.
In Istanbul schickte ich meine langen Röcke und Kleider heim – hier ist Europa, hier ist alles anders – und kaufte mir Hosen. Das Kopftuch blieb aber vorerst. Nach einer ärztlichen Untersuchung flog ich mit vielen anderen Frauen nach Deutschland, der deutsche Arbeitgeber bezahlte den Hinflug. (…) Wir waren sehr primitiv untergebracht, z.B. war ein Wasserhahn in der Wand, aber kein Becken darunter. Das Klo ohne Spülung war über den Hof zu erreichen. Oh, schlimmer als in der der Türkei, eine Katastrophe!In: Ezidinnen und Landfrauen im Gespräch. Fremde Frauen, Freundinnen. 2010, S. 99f.
Gemeinden der Ezid_innen
Die meisten ezidischen Vereine sind in den 90er Jahren gegründet worden. Die verschiedenen Schreibweisen finden sich bis heute in den Vereinsnamen wieder: Yeziden, Jesiden, Eziden, Êzîdî. Das erste ezidische Gemeindehaus ist 1993 in Celle gebaut worden, wo für viele Jahre die größte ezidische Gemeinde außerhalb der traditionellen Siedlungsgebiete lebte. Ziel der Gemeinden ist es, den Kulturerhalt und die -vermittlung zu fördern – sowohl nach innen als auch nach außen. Die Gemeindehäuser sind damit Orte für religiöse Festtage, Trauerfeiern, muttersprachlichen Unterricht oder Folklore, aber auch für Konferenzen und Seminare.
Die heutige Vereinslandschaft trennt sich zwischen politischen Auffassungen, Herkunftsregionen oder der Identitätsbezeichnung. So bezeichnen sich einige alleine als Ezid_innen, andere als ezidische Kurd_innen. Es gibt drei bundesweit organisierte Dachverbände (Zentralrat der Eziden e.V., der Zentralverband der ezidischen Vereine e.V. und Dachverband des Êzîdischen Frauenrats e.V.) und einen Landesverband (Landesverband der Eziden in Niedersachen e.V.), zudem eine Vereinigung / ein Netzwerk der Dorfgemeinschaften, zahlreiche Sport- und Künstler_innenvereine und Gemeindehäuser (z.B. in Celle, Bergen, Oldenburg, Emmerich, Kleve und Wesel). Einige Vereine bündeln fachliche Interessen, wie z.B. die Gesellschaft ezidischer Akademiker_innen e.V. oder der Verband ezidischer Jurist_innen e.V.. Der Sitz des ezidischen Fernsehsenders Çira TV befindet sich in Löhne. Es bestehen eigene ezidische Gräberfelder in Deutschland. Das größte davon befindet sich im Stadtfriedhof in Hannover-Lahe, weitere gibt es u.a. in Emmerich am Rhein, Bochum und Herford.